Ein Artikel von Prof. Dr. Gerald Hüther
Es gibt Ereignisse, die vergisst man nie: den Schulabschluss, den Auszug aus dem Elternhaus oder ein spannendes, neues Jobangebot. Wir verbinden damit meist ein grossartiges, bestärkendes Gefühl. Das Gefühl, etwas in unserem Leben erreicht zu haben, das wir ersehnt und auf das wir lang hingearbeitet haben.
Und dann gibt es Ereignisse, denen wir nur schwach und hilflos gegenüberstehen können. Sie brechen förmlich über uns herein und stellen mitunter alles in Frage: der Verlust eines nahen Menschen, ein Unfall oder eine schwere Erkrankung. Beide auf den ersten Blick so unterschiedliche Gefühle – da die Freude über Erreichtes, dort die schmerzliche Ohnmacht – haben allerdings etwas gemeinsam: Sie sind eindrücklich und stark, weil sie uns unmittelbar selbst betreffen.
Daneben gibt es aber auch Ereignisse, die über unser eigenes Leben hinausgehen: Sternstunden, in denen wir uns in dem grossen Fluss des Lebens eingebettet fühlen. Ein solch tiefes Gefühl überkommt uns, wenn wir einem Kind das Leben schenken – und damit dem Kind das Leben selbst weitergeben.
In unserer Welt scheint dieses Gefühl aber keinen Platz mehr zu haben. Schliesslich „passieren“ uns Kinder ja nicht mehr. Sie kommen mittels Verhütung oder notfalls Abtreibung oft erst dann zur Welt, wenn es in die eigene Lebens- und Karriereplanung passt. Und für den umgekehrten Fall, dass der Kinderwunsch unerfüllt bleibt, hilft die moderne Medizin nach. Schwangerschaft und Geburt sind in den meisten Fällen zu planbaren, selbstbestimmten Ereignissen geworden. Nur noch von der Freude geprägt, dass es „geklappt“ hat oder von der Sorge, dass etwas – während der Schwangerschaft – nicht „klappen“ könnte. Kurz: Werdende Eltern sind heute oft nur zwischen jenen zwei starken Gefühlen hin- und hergerissen, die wieder nur sie selbst unmittelbar betreffen: selbstbestimmte Freude und ängstliche Ohnmacht.
Das dritte, das eigene Leben übersteigende Gefühl stellt sich bei werdenden Eltern oft erst dann ein, wenn es nicht ständig von Angst und Sorge überlagert wird. Und es wird meist nicht durch einen positiven Schwangerschaftstest ausgelöst, sondern in jenem Augenblick, in dem sich das ungeborene Kind im Bauch das erste Mal spürbar bewegt: als eigenständiges Wesen, zu dem man liebevoll „Du“ sagen kann. Je intensiver Eltern diese erste Begegnung erleben, desto fester verankert sie sich auch in deren Bewusstsein.
Das elterliche „Du“ ist gleichzeitig auch ein Grundbedürfnis für jedes Kind. Es will von Beginn an als eigenes Geschöpf gesehen und angenommen werden. Ein Kind braucht dieses Gefühl wie die Luft zum Atmen, um unbekümmert die Welt zu entdecken und eigene Talente zu entfalten.
Unsere heutige Leistungsgesellschaft steht dem vielfach im Weg. Das „Du“, das eigenständige, unbekümmerte Wesen, verkommt allzu oft zu einem Objekt, das nur aus eigenen Erwartungshaltungen und auferlegten Bildungszielen zu bestehen scheint. Verengt sich der elterliche Blickwinkel derart, kann eine Erinnerung heilsam sein: „Damals, als das Kind zum ersten Mal im Bauch strampelte…“
Nach der Geburt hat ein Kind mehr Möglichkeiten, als nur gegen die Bauchdecke zu klopfen, um wahrgenommen zu werden. Irgendwann lächelt das Baby das erste Mal und die Mutter lächelt zurück. Und je häufiger ein Kind erlebt, eine Antwort in seinem Gegenüber auszulösen, desto glücklicher ist es. Bekommt ein Kind aber keine Reaktionen, verliert es das Gefühl, als eigenständiges Wesen wahrgenommen zu werden. Es wird unsicher oder gar ängstlich. Und es verliert den Mut und die Freude, die Welt zu entdecken.
Die Schwangerschaft offenbart Eltern dazu eine wichtige Erkenntnis: Fast alles geschieht von allein. Normalerweise sorgt der Körper der Schwangeren dafür, dass das ungeborene Kind all das bekommt, was es für seine Entwicklung braucht. Mehr noch: Bereits im Bauch entsteht die emotionale Bindung zu Mutter, Vater und der Umgebung. Alle Beteiligten haben zu diesem frühen Zeitpunkt schon von Natur aus die Fähigkeit, einander zu fühlen und aufeinander zu reagieren. Oft völlig überraschend und ungeplant. Es passiert also etwas, was wir weder gestalten noch steuern können und was dennoch unser Leben nachhaltig verändert.
”Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber.”
Khalil Gibran
Je besser es Eltern gelingt, sich dieser neuen Erfahrung zu öffnen, desto leichter fällt es, das Kind liebevoll und dankbar anzunehmen und es später durchs Leben zu begleiten. Abseits von eigenen Vorstellungen und starren Bildungssystemen bleibt es dabei immer wesentlich, das eigene Kind zu ermutigen, die angeborene Freude und Lust am Entdecken auch auszuleben.
Kein Kind kommt mit der Absicht auf die Welt, besser als alle anderen zu sein oder so wie alle anderen zu werden. Es wird mit dem tiefen Bedürfnis geboren, anders als alle anderen zu sein und seine Einzigartigkeit auch zu entfalten. Auf den ersten Blick scheint unsere gegenwärtige Welt keine Verwendung für solche einzigartigen Persönlichkeiten zu haben. Wir brauchen offenbar nur Menschen, die möglichst gut funktionieren, die von uns aufgebaute Universitäten und Unternehmen weiterführen, und die irgendwann mit eigenen Kindern unsere Renten sichern.
Aber wir wissen auch, dass sich unsere Welt ständig verändert – und auch verändern muss. Woher kommen aber dann die Impulse für den notwendigen Wandel? Wer stellt kritisch in Frage, was wir geschaffen haben? Und wie langweilig und wenig zukunftsfähig wäre unsere Welt, wenn es nicht Kinder gäbe, die sich anders entwickeln, als wir es von ihnen erwarten? Sie sind letztendlich jene Menschen, die unsere Welt neu gestalten können.
Vielleicht hilft werdenden Eltern angesichts der grossen Herausforderung von Geburt und Kind der Ausdruck, dass sie ein Kind „erwarten“. Ein Kind, das weder von ihnen gemacht noch nach ihren Vorstellungen geformt wird, sondern nur bestmöglich begleitet wird, um sich aus sich heraus zu entwickeln. Ein Kind, das von Eltern als Geschenk erlebt wird und dem die Eltern sein Leben zum Geschenk machen.
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8. Oktober 2024, 19:00 Uhr